Samstag, 31. Juli 2010

Interview mit Dr. Gershon Baskin, Leiter des Israel-Palestine Center for Research and Information

„Die Uhr tickt!“ – Interview mit Dr. Gershon Baskin, Leiter des Israel-Palestine Center for Research and Information

Dr. Gershon Baskin ist ehemaliger Regierungsberater in Israel. Seit über 20 Jahren leitet er mit einem palästinensischen Kollegen das Israel-Palestine Center for Research and Information, kurz IPCRI, einen renommierten Think Tank, welcher den Friedensprozess aktiv begleitet. Das IPCRI ist eine gemeinsame Institution von Israelis und Palästinensern, welche sich der Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts auf der Basis einer Zwei-Staaten-zwei-Völker-Lösung verpflichtet hat. Es erachtet eine solche Lösung als absolute Erfüllung der unterschiedlichen strategischen und sicherheitspolitischen Interessen beider Völker.

Dr. Baskin studierte in New York und Greenwich Politik und Geschichte. Er ist seit den 1980er Jahren in verschiedenen Nichtregierungsorganisationen engagiert, die sich mit der Lösung des Nahostkonflikts befassen. Außerdem war er Kandidat des Green Movement für die Knesset. Er veröffentlicht außerdem regelmäßig in großen israelischen und internationalen Zeitungen.

Das Interview wurde im Mai 2010, kurz vor Beginn der indirekten Friedensgespräche, im Konrad Adenauer Conference Center Mishkenot in Jerusalem geführt.

netz-betrieb.de: Dr. Baskin, vor fast 15 Jahren, im November 1995, wurde Yitzhak Rabin in Tel Aviv erschossen. Er wurde als treibende Kraft im Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern gesehen. Was ist von seinen Bemühungen geblieben?

Gershon Baskin: Rabin brach ein großes Tabu, indem er die PLO und die palästinensischen Behörden als gleichberechtigte Partner akzeptierte. Das ganze Konzept der gegenseitigen Anerkennung – etwas, das heute jedermann als Grundlage für Frieden sieht – basiert auf seinen Ideen. Rabin hatte nie die Gelegenheit, seine Vorstellungen voll umzusetzen, aber alles, was nach ihm kam, ist im Prinzip Resultat seiner Pläne und Konzepte.

netz-betrieb.de: Es scheint, als ob ausgerechnet mit Rabin und später Ariel Sharon zwei ehemalige Falken aus der israelischen Armee einem nachhaltigen Frieden am nächsten waren…

Gershon Baskin: Das Klischee würde jetzt sagen, dass ehemalige Militärs eher in der Lage sind, die Opfer zu erkennen, welche die Männer und Frauen unter ihrem Kommando bringen müssen. Durch das Fernglas eines Kommandeurs zu schauen, verändert die Perspektive. Sharon formulierte das gegenüber Journalisten so: „Was Sie von hier aus sehen, können Sie nicht von dort sehen.“ Daher konnten vielleicht nur die Falken das durchsetzen, was vorher undenkbar war. Sie waren glaubwürdiger als die linken Politiker, die das gleiche wollten.

netz-betrieb.de: Sehen Sie derzeit eine solche Führungsfigur?

Gershon Baskin: Nein. (überlegt) Im Moment hängt wirklich alles an Premierminister Netanjahu, dem derzeitigen Führer der Rechten.

netz-betrieb.de: Erst vor kurzem sind die durch den US-Sondergesandten Mitchell vermittelten indirekten Friedensgespräche gestartet. Wie wichtig ist beiden Seiten der Frieden heute?

Gershon Baskin: Es gibt auf palästinensischer Seite einen viel höheren Sinn für Dringlichkeit als auf der israelischen. Aber die Zeit ist nicht auf unserer Seite – die Uhr tickt!

netz-betrieb.de: Welche Rolle spielen Akteure wie die EU im Moment und auch in künftigen direkten Gesprächen?

Gershon Baskin: Die EU spielt eigentlich eine schwache Rolle. Obwohl die Europäer mehr tun könnten, haben sie doch ihre eigenen Probleme: Die Finanzkrise, die Rettung des Euro und ähnliche Probleme sind derzeit dringender. Die Problematik könnte jedoch 2011 wieder auftauchen und im Zentrum stehen, denn dann werden die Palästinenser wahrscheinlich die 27 Mitglieder der EU auffordern, ihren Staat anzuerkennen. Dies hängt nicht unbedingt von den aktuellen Gesprächen ab und könnte Europa vor ein ähnliches Dilemma stellen, wie 2008 im Falle der Anerkennung des Kosovo.
Die Entwicklungen der Staatlichkeit in Palästina nehmen immer stärker Form an. So war ich beispielsweise kürzlich in Ramallah, beim dortigen Außenministerium. Auf der anderen Straßenseite befindet sich ein wichtiges Gerichtsgebäude, mit einem „Der Staat Palästina“-Schild über dem Eingang. Und es handelt sich hier nicht nur um Symbole: Als ich auf die andere Straßenseite schaute, fuhren Polizeiautos vor und einige Gefangene wurden hereingebracht. Palästina entwickelt ein stabiles Rechtssystem: Die Behörden unterstützen heute keinen Terrorismus mehr, sie bekämpfen ihn und jagen palästinensische Terroristen.

netz-betrieb.de: Und welche Rolle spielt die derzeitige US-Regierung? Kritiker werfen Präsident Obama vor, er habe zwar das Nahost-Problem schon sehr früh in seiner Amtszeit angesprochen, jedoch viel Vertrauen verloren, indem er alles auf die Siedlungsfrage in Ostjerusalem zuspitzte.

Gershon Baskin: Ich würde nicht sagen, er habe den Konflikt auf die Siedlungsfrage „zugespitzt“. Er ist viel mehr in eine Falle der Israelis und Palästinenser getappt: George Mitchell musste über Verhandlungen verhandeln, nicht über politische Inhalte. Dies hat den Friedensprozess eingefroren.
Präsident Obama berief Senator Mitchell schon am zweiten Tag seiner Amtszeit und am 4. Tag war Mitchell bereits hier. Aber es gab kein schlüssiges Konzept! Mir erscheint Obama wie ein Schiffskapitän: Er zeigt zwar Führungskraft, hat aber keinerlei Orientierung. Hoffentlich ändert sich dies, wenn in ein paar Wochen die Verhandlungen beginnen.

netz-betrieb.de: Also werden weder die EU noch die USA einen Friedensplan auferlegen können?

Gershon Baskin: Auflagen schaffen und Druck ausüben sind völlig verschiedene Dinge! Ein auferlegter Frieden wird nicht funktionieren. Druck jedoch ist etwas anderes: Es ist ein grundlegendes diplomatisches Mittel. Diplomaten müssen immer mit Zuckerbrot und Peitsche arbeiten. So ein Zuckerbrot wäre etwa die OECD-Mitgliedschaft Israels. Dies beinhaltet natürlich gewisse Standards, „excavation laws“, und so weiter. Dies können die Mitgliedsstaaten Israel auferlegen. Man könnte auch die Kennzeichnung von Produkten aus den Siedlungen in Palästina auferlegen, um sie weniger attraktiv zu machen.

netz-betrieb.de: Derzeit wird Israel von Skandalen erschüttert, zum Beispiel die Korruptionsvorwürfe gegen Ehud Olmert oder der Fall Anat Kamm, in dem es um die Pressefreiheit geht und der in Europa hohe Wellen geschlagen hat. Es scheint einen Vertrauensverlust in Israels politischer Klasse zu geben. Glauben Sie als Führungsperson im Nichtregierungsbereich, dass es nun an Organisationen wie Ihrer hängt, das Vertrauen in die Politik wiederherzustellen?

Gershon Baskin: Naja, dieser Vertrauensverlust ist nicht neu. Demographen geben seit 20 Jahren den so genannten „democracy index“ heraus – und dieser belegt immer wieder, wie gering das Vertrauen in die Knesset ist.
Ich glaube nicht, dass es Aufgabe von NGOs oder der Zivilgesellschaft allgemein sein sollte, ins Becken zu springen und die Politiker zu retten. Ich glaube auch nicht, dass sie das können. Eigentlich sind die NGOs in einer privilegierten Position: Sie können als Prediger für ein besseres Morgen auftreten. Politiker jedoch müssen eine andere Sprache benutzen und die Realität abbilden. Aber vielleicht sollten mehr NGO-Aktivisten politisch aktiv sein, um die Hindernisse der Alltagspolitik zu erkennen.

netz-betrieb.de: Eine letzte Frage: Wenn wir Deutsche von Mauern und Schutzzäunen hören, oder von geteilten Städten, dann kommen immer die Erinnerungen an das geteilte Deutschland hoch. Sind all die Checkpoints, Mauern und Teilungspläne wirklich nötig?

Gershon Baskin: Zunächst einmal sollte man nicht vergessen, dass die Mauer in Deutschland eine Nation teilte. Das ist hier nicht der Fall. Die Barrieren sind da, um Israelis von Palästinensern zu trennen. Niemand kann hier das Recht Israels auf Selbstverteidigung bestreiten. Dies muss aber innerhalb von gemeinsamen und anerkannten Grenzen passieren, ohne dass man den Palästinensern Land wegnimmt, meist noch ohne angemessene Entschädigung.
Jerusalem muss politisch geteilt werden, denn keine Seite wird jemals Frieden geben, wenn sie nicht zumindest einen Teil der Stadt hat. Aber die Stadt muss offen bleiben! Wie offen, wird von den Sicherheitsmaßnahmen abhängen: je größer die Gefahr, desto weniger Offenheit.
Natürlich würde ich mir eher wünschen, dass man Mauern niederreißt und Brücken baut. Aber die Mauer gibt den Israelis zumindest ein Gefühl von Sicherheit und es ist eine physische Hürde für die Terroristen. Die Situation hat sich ja auch in den letzten Jahren entspannt. Die Frage ist aber: Trotz oder wegen der Mauer? Im Endeffekt wird es ein Ergebnis von beidem sein. Es ist schwieriger geworden, als Terrorist nach Israel zu kommen, aber es gibt ja, wie gesagt, große Bemühungen auf palästinensischer Seite, um den Terrorismus zu bekämpfen. Hierauf wird es ankommen, wenn man auf lange Sicht die Mauern niederreißen will.

netz-betrieb.de: Danke für das Gespräch.

Das Interview führte Dominik Vorholt.

netz-betrieb.de

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen