Donnerstag, 8. April 2010

Türkischer Islam will Fesseln des Staates sprengen

Was ist nur los in dieser religionsverrückten Welt? Konsequente Säkularisierung würde bedeuten, dass der Staat ebenso wenig Recht hat in die Religion einzugreifen, wie die Religion dies beim Staat hat. Allerdings sehe ich keine andere Möglichkeit. Der Islam ist mit Abstand die rückständigste und machtgierigste aller Religionen, von daher sollen die Fesseln des Staates bleiben, um ein Rückfallen der modernen Türkei in die Steinzeit islamischer Religionsdiktatur zu verhindern.

Radikale Pläne
Türkischer Islam will Fesseln des Staates sprengen

Die 110.000 Imame in der Türkei haben revolutionäre Pläne. Sie wollen sich dem Zugriff der Regierung entziehen, verlangen mehr Geld, Macht, politische Immunität und einen gewählten Ober-Geistlichen. Kritiker befürchten, dass es in der Türkei zu einer neuen Ära radikaler politischer Agitation kommen könnte.



Für westlich orientierte Türken ist eine eigenständige religiöse Autorität eine Schreckensvision

Auf der Internetseite des türkischen Ministerpräsidentenamtes steht ein 29seitiger Gesetzentwurf für eine Reform des Direktorats für religiöse Angelegenheiten, kurz „Diyanet“. Der Entwurf – und im Hintergrund das Drängen der 110.000 Imame des Landes – sind Vorboten tiefgreifender Änderungen, die das gesellschaftliche Leben in der Türkei spürbar verändern könnten. Es geht darum, dass die Imame mehr Geld, Macht und Einfluss wollen.

Lütfü Senocak, Vorsitzender der Imam-Vereinigung Din-Bir-Sen, nickt eifrig, als ich es wiederhole, um sicher zu sein, es richtig verstanden zu haben: Er wünscht statt des bisher vom Staat ernannten Diyanet-Chefs dessen Wahl durch die Imame. Ein gewählter Diyanet-Chef hätte viel mehr Gewicht und Einfluss in der Politik. Genau, sagt Senocak: „Wir haben nichts gegen den gegenwärtigen Diyanet-Chef Ali Bardakoglu, uns geht es um das Prinzip.“

Säkulare Kritiker verziehen bei dieser Forderung das Gesicht – Staatsgründer Atatürk hatte gezielt das Kalifat als zentrale religiöse Autorität abgeschafft, weil er im Islam die Quelle aller Rückständigkeit erblickte. Eine eigenständige religiöse Autorität ist eine Schreckensvision für westlich orientierte Türken.

Die gegenwärtige Regierungspartei AKP ist islamisch geprägt, entstand gar aus einer fundamentalistisch eingestellten Vorgängerpartei. Viele Forderungen der Imame will sie offenbar annehmen. Aber diese eine nicht – der Diyanet-Chef soll weiterhin von der Regierung ernannt werden und dem Staat dienen, nicht Gott oder den Gläubigen.

Zwei wichtige Wünsche der Imame sollen möglicherweise Wirklichkeit werden: Freies Predigen und eine begrenzte Immunität. „Gegenwärtig erhalten alle Imame eine zentral redigierte Freitagspredigt von der Behörde und müssen sie den Gläubigen vorlesen“, sagt Senocak. Es ist ein weiteres Erbe der Reformen Atatürks, der sicherstellen wollte, dass der Islam keine eigene Stimme hat, sondern nur den Willen des Staates verkündet.

Die verordneten Predigten entsprechen aber nach Meinung der Imame nicht dem „wahren Islam“: „Geistliche können in religiösem Dingen (den Gläubigen) nicht die Wahrheit sagen“ heißt es in einer Eingabe Senocaks an die Religionsbehörde. Um das zu ändern, sollten sie „am Donnerstag selbst eine Predigt schreiben, um sie dann am Freitag mit den Gläubigen zu teilen“. Das, so sagt Senocak, würde den „Enthusiasmus“ steigern und die Gemeinschaft der Gläubigen enger zusammenfügen.

Offenbar würde es auch die Politik berühren, denn Senocak fordert eine begrenzte Immunität für Prediger, und der Gesetzentwurf sieht genau das vor. Es ist nur ein kurzer Satz: Angestellte der Religionsbehörde – also alle Imame – werden strafrechtlich anderen Beamten gleichgesetzt. Das bedeutet, dass eine Strafverfolgung nur mit Einwilligung ihres Vorgesetzten erfolgen kann, also mit Erlaubnis des Diyanet-Chefs.

Verhaltensregeln des Islam

Was aber könnte strafbar sein an der Verkündung des wahren Islam? Senocak windet und windet sich, zehnmal frage ich ihn nach einem Beispiel, er gibt keines. „Wir brauchen die Immunität in unserer Arbeit mit Kindern“, gibt er zu verstehen, „um ihnen die Bestimmungen und Verhaltensregeln des Islam beizubringen“.

Aber als ich nicht lockerlasse und unbeirrt ein konkretes Beispiel fordere für derzeit strafbares Predigen, meint er plötzlich, entgegen seiner eigenen Eingabe an die Behörde: „Wir brauchen gar keine Immunität. Es genügt die freie Freitagspredigt.“ Thema abgeschlossen.

Religionsunterricht für Kinder ist ein heikles Thema, unter der AKP-Regierung wurden zahlreiche illegale Koranschulen legalisiert – nach Meinung von Kritikern wurde dabei nicht geprüft, was dort eigentlich gelehrt wird. Nun fordern die Imame Geld vom Staat für die legalisierten Schulen: „Wir lehren die Kinder“, sagt Senocak, „und fordern daher, auch finanziell mit Lehrern gleichgestellt zu werden.“ Auch die Imame selbst wollen mehr Geld.

Keine Reaktion auf Reformpläne

Türkische Politiker haben auf die Reformpläne bislang kaum reagiert, die Medien ebenso wenig. Am größten was das Echo bislang im Ausland, als eine Nachrichtenagentur eine knappe Meldung darüber absetzte.

Also fragte ich Mustafa Sarigül, einen sozialliberalen Politiker, der diesen Sommer eine mit Interesse erwartete Partei gründen will und überall im Land Massenveranstaltungen organisiert, um für sich zu werben. Es war offenbar eine problematische Frage: „Sollte die Türkei freie Freitagspredigten zulassen oder beim alten Modell bleiben?“

Sarigül nahm zweimal Anlauf, ehe er dann doch klar Position bezog: „Also, ich gehe ja jeden Freitag in die Moschee. Erst wird der Behördentext vorgelesen, drei Minuten oder so. Dann erzählt der Imam alles Mögliche. Ich muss sagen, da bekommt man mitunter die wildesten Sachen zu hören. Die Ausbildung unserer Imame ist sehr schlecht, und ich denke, bis sich das ändert, sollten wir beim alten Modell der behördlich vorgeschriebenen Predigt bleiben.“

Wann aber kommt denn die große Imam-Reform? Senocak meint, erst müsse die Regierung die gegenwärtig im Parlament vorliegenden Verfassungsänderungen durchbringen, dann käme gleich als nächstes die Diyanet-Reform.

Warum erst die Verfassung geändert werden muss, das ist verständlich – die AKP ist bereits einmal vom Verfassungsgericht wegen „antisäkularer Umtriebe“ verurteilt und bestraft worden. Die Verfassungsreform wird diesen Tatbestand als Grund für Parteischließungen abschaffen und das Verfassungsgericht politisch gefügig machen – seine Struktur wird verändert.

Dann kann die Imam-Reform kommen. Kritiker fürchten, dass sie der Türkei eine neue Ära radikaler politischer Agitation durch Imame bescheren wird. Die Regierung hofft, dass es ein weiterer Schritt in Richtung Religionsfreiheit wird.

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